Bei Autoimmunerkrankungen handelt es sich um chronisch entzündliche Prozesse. Weltweit sind derzeit ca. 5-8% der Bevölkerung von ungefähr 80-100 verschiedenen Autoimmunerkrankungen betroffen. Sie bilden nach Herz-Kreislauf- und Tumorerkrankungen die dritthäufigste Erkrankungsgruppe. [1] Trotz dieser Zahlen wissen viele Menschen nur wenig über diese Erkrankungen und ihre weitreichenden Folgen. Doch wer schon mal betroffen war, weiß: Eine Autoimmunerkrankung ist mehr als nur „eine Krankheit“ – sie verändert das ganze Leben.
Was sind Autoimmunerkrankungen eigentlich?
Im Normalfall schützt dein Immunsystem deinen Körper vor Eindringlingen wie Bakterien, Viren oder Pilzen. Bei einer Autoimmunerkrankung passiert jedoch etwas Merkwürdiges: Dein Immunsystem verwechselt körpereigenes Gewebe mit Fremdstoffen und beginnt, es anzugreifen. Das kann praktisch jedes Organ oder Gewebe betreffen. Bei Typ-1-Diabetes werden die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Bei Multipler Sklerose richtet sich der Angriff gegen die Schutzhüllen der Nervenbahnen. Bei rheumatoider Arthritis sind die Gelenke das Ziel. [2]
Was viele Betroffene gemeinsam haben: Chronische Müdigkeit, schleichende Symptome und oft eine lange Odyssee bis zur Diagnose. Viele hören jahrelang, ihre Beschwerden seien psychisch bedingt oder „nicht messbar“, bis endlich die richtige Diagnose gestellt wird.
Warum eine Autoimmunerkrankung nie nur ein Organ betrifft
Ein wichtiger Punkt, den selbst viele Ärzte übersehen: Eine Autoimmunerkrankung betrifft nie nur das Organ, gegen das sich die Antikörper richten. Sie bringt ganze Körpersysteme aus dem Gleichgewicht.
Bei der Hashimoto-Thyreoiditis zum Beispiel, eine der häufigsten Autoimmunerkrankungen, wird die Schilddrüse angegriffen. Die unmittelbare Folge ist oft eine Schilddrüsenunterfunktion. Dabei ist das nur die Spitze des Eisbergs. Die Schilddrüse steuert deinen Stoffwechsel, deine Körpertemperatur, dein Gewicht und sogar deine Stimmung. Eine Störung hier hat Auswirkungen auf deine Energie, deine Verdauung und selbst deine Gehirnfunktion.
Oder Zöliakie, bei der das Immunsystem auf Gluten reagiert und die Darmschleimhaut schädigt. Die offensichtliche Folge sind Verdauungsprobleme. Doch durch die verminderte Nährstoffaufnahme können Mangelzustände entstehen, die wiederum Müdigkeit, Haarausfall, Knochenschwund oder Unfruchtbarkeit verursachen können.
Die anderen Organsysteme versuchen zu kompensieren – oder sie entgleisen ebenfalls. Die Leber arbeitet auf Hochtouren, um Entzündungsstoffe abzubauen. Die Nebennieren produzieren mehr Stresshormone. Die Mitochondrien, deine zellulären Kraftwerke, können nicht mehr genug Energie bereitstellen. [3]

Eine Autoimmunerkrankung kommt selten allein
Hast du bereits eine Autoimmunerkrankung, ist das Risiko erhöht (etwa 25%), weitere zu entwickeln. [4] Mediziner nennen das „Clustering“. Grund dafür ist eine Mischung aus genetischer Veranlagung, Umweltfaktoren und bereits gestörten Toleranzmechanismen im Immunsystem.
Man spricht deshalb auch vom „autoimmunen Spektrum“ – viele Patienten haben Mischformen oder Überlappungen verschiedener Autoimmunerkrankungen. Die Hashimoto-Patientin entwickelt vielleicht später eine Arthritis. Der Morbus-Crohn-Patient könnte zusätzlich eine Schuppenflechte bekommen. Die eigentliche Störung liegt tiefer – im Immunsystem selbst und in den Faktoren, die es aus dem Gleichgewicht bringen.
Warum werden manche Menschen krank – andere nicht?
Autoimmunerkrankungen entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren:
- Genetik: Bestimmte Genevarianten (wie HLA-Typen) können das Risiko erhöhen. Wenn in deiner Familie schon Autoimmunerkrankungen vorkommen, ist dein Risiko höher.
- Darmgesundheit: Ein Phänomen namens „Leaky Gut“ (durchlässiger Darm) kann dazu führen, dass größere Nahrungspartikel in den Blutkreislauf gelangen und Immunreaktionen auslösen.
- Ernährung: Bestimmte Nahrungsmittel können bei anfälligen Personen Entzündungen fördern – vor allem Gluten, Milchprodukte und industriell verarbeitete Lebensmittel mit Zusatzstoffen.
- Umwelteinflüsse: Schwermetalle, Pestizide und andere Umweltgifte können das Immunsystem irritieren.
- Stress und Schlafmangel: Chronischer Stress und zu wenig Erholung schwächen die Selbstregulationsfähigkeit des Körpers.
- Infektionen: Bestimmte Viren wie das Epstein-Barr-Virus oder Bakterien wie Borrelien können bei manchen Menschen Autoimmunreaktionen triggern.
- Nährstoffmangel: Vor allem Vitamin D, Selen, Zink und Omega-3-Fettsäuren spielen wichtige Rollen bei der Immunregulation.
Oft ist es nicht ein einzelner dieser Faktoren, sondern die Kombination, die schließlich den „Eimer zum Überlaufen“ bringt.
Wie Autoimmunerkrankungen deine Energie rauben
Autoimmunerkrankungen sind wahre Energieräuber – und zwar buchstäblich. Die chronischen Entzündungsprozesse belasten deine Mitochondrien, die für die Energieproduktion in den Zellen zuständig sind. Dauernde Immunaktivierung erfordert viel ATP, den universellen Energieträger des Körpers. [5] Das Ergebnis? Deine Stressresistenz sinkt. Deine Regenerationsfähigkeit verlangsamt sich. Dein Hormonhaushalt gerät durcheinander – betroffen sind die Schilddrüse, Nebennieren und oft auch die Geschlechtshormone.
Die Konsequenzen spürst du auf allen Ebenen:
- Kognitiv: Konzentrationsprobleme, „Brain Fog“ (Gehirnnebel), Gedächtnislücken
- Emotional: Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit, Ängste
- Körperlich: Muskel- und Gelenkschmerzen, verminderte Belastbarkeit, gestörter Schlaf
Viele Betroffene kennen das Gefühl, „mit angezogener Handbremse“ zu leben.

Normaler Erschöpfung vs. autoimmunbedingter Fatigue
Der Unterschied zwischen normaler Erschöpfung und autoimmunbedingter Fatigue ist gewaltig – wie der Vergleich zwischen einem Regenschauer und einem Tsunami.
Normale Müdigkeit | Autoimmunbedingte Fatigue |
Tritt nach Anstrengung auf | Kann ohne erkennbare Anstrengung auftreten |
Verschwindet nach Schlaf | Bessert sich kaum durch Schlaf |
Hat eine erkennbare Ursache | Oft ohne direkten Auslöser |
Kopf bleibt klar | Wird von „Gehirnnebel“ begleitet |
Regenerationszeit entspricht der Anstrengung | Ein kurzer Einkauf kann tagelange Erschöpfung auslösen |
Ein wichtiges Merkmal der autoimmunen Fatigue: Die Erholungszeit steht in keinem Verhältnis zur Anstrengung. Wobei gesunde Menschen nach einem anstrengenden Tag vielleicht einen Abend Ruhe brauchen, kann bei Autoimmunerkrankungen ein kurzer Einkauf tagelange Erschöpfung verursachen.
Wenn du diese Art von Erschöpfung erlebst, ist das kein Grund, an dir zu zweifeln. Es ist ein reales Symptom mit biologischen Ursachen: chronische Entzündungen, mitochondriale Dysfunktion und die ständige Überaktivität deines Immunsystems. [6,7]
Der Weg nach vorn: Mehr als nur Symptombekämpfung
Die gute Nachricht: Autoimmunerkrankungen sind kein unabänderliches Schicksal. Sie sind ein Alarmsignal deines Körpers, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Konventionelle Therapien unterdrücken oft nur die Symptome oder das Immunsystem pauschal. Doch ein ganzheitlicher Ansatz befasst sich mit der Frage: Was hat das Immunsystem ursprünglich aus dem Gleichgewicht gebracht?
Ein solcher Ansatz könnte folgende Maßnahmen umfassen:
- Eine entzündungshemmende Ernährung, angepasst an deine individuellen Trigger
- Verbesserung der körpereigenen Mikrobiome (v.a. Darm, Mund, Haut)
- Stressmanagement durch Meditation, Atemtechniken oder sanfte Bewegung
- Optimierung des Schlafs als wichtigster Regenerationszeit
- Gezielte Supplementierung von Mikronährstoffen nach Testung
- Reduzierung der Toxinbelastung im Alltag
Vor allem aber: Verstehe deinen Körper als vernetztes System, in dem alles mit allem zusammenhängt. Wenn du lernst, die Sprache deines Körpers zu verstehen, kannst du viel für deine Gesundheit tun – auch mit einer Autoimmundiagnose.
Fazit
Autoimmunerkrankungen zwingen uns, über Gesundheit neu nachzudenken. Sie lehren uns, dass der Körper ein komplexes, vernetztes System ist – und dass wahre Heilung mehr bedeutet als das Unterdrücken von Symptomen. Für dich als Betroffenen oder Angehörigen kann dieses Wissen befreiend sein. Deine Erschöpfung, deine diffusen Symptome und deine Energielosigkeit haben reale, körperliche Ursachen – und es gibt Wege, diese Ursachen anzugehen.
Literaturverzeichnis: